Schüchtern, hochsensibel oder introvertiert? Oder alles zusammen?
„Sei doch nicht so schüchtern!“ „Sei doch nicht so sensibel!“ „Geh doch mal mehr unter Menschen!“ Hast du das auch schon gehört und dich (un)heimlich darüber geärgert?
Diese mehr oder weniger gut gemeinten Tipps kennen viele von uns, die vom Typ her eher ruhiger sind. Auf den ersten Blick klingt das auch alles ganz ähnlich, bei genauerer Betrachtung sind es jedoch drei komplett verschiedene Dinge. Als Kind habe ich oft gehört, dass ich schüchtern sei. Und auf meinem Zeugnis stand so gut wie immer, dass ich freundlich und gut integriert, aber zurückhaltend sei (Warum eigentlich „aber“ - schließen sich Freundlichkeit und Zurückhaltung gegenseitig aus?). Ich interpretierte Zurückhaltung als Schüchternheit. Und wann immer ich die ziemlich doofe Frage „Na, bist du schüchtern?“ gehört habe, hatte ich das Gefühl, das traf es nicht so richtig. (By the way, welches stille Kind sagt auf diese Frage „Ja genau, danke, dass du das erkannt hast, jetzt ist das alles gleich viel weniger unangenehm!“)
Heute weiß ich: ich bin gar nicht schüchtern, ich beobachte nur gerne und mag es lieber, an der Seite zu stehen, als mittendrin zu sein. Vor einer Weile gab es in der Psychologie Heute einen interessanten Artikel mit dem Titel „Still und stark“. Darin ging es unter anderem um die Unterschiede zwischen den Attributen Schüchternheit, Introversion und Hochsensibilität. Erklärt wurde das sehr anschaulich am Beispiel einer Partyeinladung.
Der schüchterne Mensch geht zu der Party, hält sich an seinem Glas fest, steht am Rand der Tanzfläche und denkt sich „Ach, ich würde so gerne mittanzen, aber ich trau mich nicht!“ Die hochsensible Person nimmt die Einladung ebenfalls an und ist dann völlig überwältigt und reizüberflutet von der Lautstärke, der Fülle an Menschen und den ganzen Eindrücken. Die Introvertierten sagen höflich ab und haben einen glückseligen Abend alleine auf dem Sofa mit einem guten Buch oder mit der besten Freundin und führen tiefe Gespräche. Falls sie doch zu der Party gehen, verbringen sie den Abend vertieft in ein Gespräch mit einer Person. Ich bin nach der Definition nicht schüchtern, sondern eine ziemlich zufriedene Introvertierte mit leichten Anflügen von Hochsensibilität (besonders dann, wenn ich nicht so introvertiert sein darf wie ich es halt bin). Ich fühlte mich viele Jahre später bestätigt in meinem Gefühl, dass der Stempel „Schüchternheit“ gar nicht so zu mir passt. Denn ich kann gut auf Menschen zugehen und ich bin auch gar nicht schlecht in Sachen Small-Talk, Vertrieb, Netzwerken etc.
Woran merke ich, ob ich introvertiert oder extrovertiert bin? Selbstverständlich kann ein introvertierter Mensch genauso glücklich sein in Gesellschaft wie ein extrovertierter, aber – und das ist der entscheidende Unterschied – seine Batterien lädt er durch das Alleinsein auf. Genauso gut kann eine extrovertierte Person hervorragend ganz ruhig und konzentriert alleine arbeiten – das Auffüllen der Energiereserven passiert hier aber durch das Zusammensein mit anderen Menschen.
Natürlich kann sich das alles auch überschneiden und es können auch alle drei Merkmale (schüchtern, hochsensibel und introvertiert) auf einen Menschen zutreffen.
Und was ist eigentlich mit den Extrovertierten? So wie introvertierten Menschen gerne das Etikett „Schüchternheit“ verpasst wird, passiert es extrovertierten Menschen oft, dass sie als robuster und dickfelliger eingeschätzt werden als sie es in Wahrheit sind. Zwar wird in unserer Arbeitswelt Extroversion oft als positiver und erstrebenswerter gesehen als Introversion, allerdings haben es extrovertierte Menschen, die zugleich hochsensibel sind oder schüchtern, fast noch schwerer als Introvertierte. Denn als introvertierter Mensch gucke ich ganz automatisch darauf, dass ich mir meine Zeit alleine nehme, und dass es genug ruhige Phasen gibt, Puffer zwischen Terminen etc. Als extrovertierte Person, die zugleich hochsensibel ist, ist die Gefahr einer Überreizung/Überforderung viel größer. Und auch andere neigen dazu, Extrovertierte zu überschätzen. Da wo Introvertierte und Schüchterne unterschätzt werden, passiert es Extrovertierten eher, dass man ihnen mehr zumutet, als gut für sie wäre. Und auch sie selbst merken oft nicht schnell genug, ab wann es zu viel ist. Denn Extrovertierte sind viel mehr im Außen als im Innen. Grenzen setzen zu lernen, ist für sie einerseits noch viel herausfordernder, andererseits aber mindestens genauso nötig wie für Introvertierte. Nun kann man denken: es sind doch eh alles nur Schubladen - introvertiert, extrovertiert, hochsensibel etc. Und Schubladen können sehr begrenzen, abstempeln und klein halten.
Fernab von allen Etiketten: es ist so wichtig, sich selbst gut zu kennen, seine Bedürfnisse wahrzunehmen und sich das eigene Leben so zu gestalten, dass alles seinen Platz darin findet: der Wunsch nach Austausch gleichermaßen wie der nach Rückzug, Nähe und Distanz, Konstanz und Abwechslung.
Weißt du, wieviel du wovon brauchst? Lebst du danach, gestaltest du deine Beziehungen und dein berufliches Umfeld danach? Wenn du dir Unterstützung beim Finden deiner ganz individuellen Strategie wünschst, melde dich sehr gerne bei mir.
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