Berufung ist ein großes Wort. Einerseits reden viele von uns über ihre tagtägliche Arbeit als Job und haben das Gefühl, regelmäßig aus dem Alltag ausbrechen zu müssen, andererseits sind wir auf der Suche nach der großen Berufung, nach dem ganz tiefen Sinn und der Erfüllung. Ich finde den Begriff „Job“ tatsächlich wenig wertschätzend für eine Aufgabe, der wir in der Regel sehr viel mehr Zeit und Raum in unserem Alltag und in unseren Gedanken erlauben als den meisten Hobbies, Freundschaften etc. Gleichzeitig erscheint mir die Sehnsucht, die eine wahre Berufung zu finden, als eine riesige Aufgabe, die nicht nur beglückend, sondern auch sehr bedrückend werden kann.
Es gibt so vieles, das ich gerne mag, wofür ich mich interessiere und das mich glücklich macht: Schwimmen, Lesen, Schreiben, Coachen, Psychologie, Kommunikation, Zuhören, Fotografieren, Ordnen, Analysieren, Musik hören, Singen, in der Natur sein, Blumen, Tiere, Mode. Ich wäre sehr überfordert, müsste ich mir aus all diesen Leidenschaften eine einzige Berufung zurechtzimmern.
Ich bin für weniger „Finde deine wahre Berufung!“ auf Basis von fachlichen Stärken und Interessen und für mehr „Lebe, arbeite und liebe nach deinen Werten!“
Mit Werten sind hiermit Qualitäten und Eigenschaften gemeint, die wir erstrebenswert finden. Das ist im höchsten Maße individuell: Ist für einen Menschen Neugierde eine positiv besetzte Eigenschaft, findet ein anderer sie unangebracht. Hält eine Person Zurückhaltung für erstrebenswert, kann eine andere damit gar nichts anfangen.
Es gibt im Coaching und natürlich auch außerhalb des Coachings verschiedene Wege und Übungen, sich seiner Werte bewusst zu werden. Für mich steht das nahezu immer am Anfang eines Coachingprozesses – Egal, ob es sich um eine berufliche Neuorientierung, eine private Entscheidung, einen Konflikt oder um das Thema Burnout dreht. Denn die eigenen Werte sind wie ein Kompass, der uns helfen kann, wieder den richtigen Weg zu finden, wenn wir uns vorher verirrt haben zwischen fremden und eigenen Ansprüchen und Druck von innen und außen.
Die eigenen Werte zu kennen, ist meiner Meinung nach essentiell, um die eigenen Bedürfnisse wichtig zu nehmen, gute Beziehungen führen zu können und Entscheidungen zu treffen, hinter denen wir stehen und die zu uns passen. Wenn mir bewusst ist, dass mir z.B. Freiheit wichtig ist, treffe ich andere Entscheidungen als ich das täte, wenn Sicherheit oben auf der Prioritätenliste stünde. Ist mir selbst allerdings nicht klar, was mein für mich zentraler Wert ist, kann es passieren, dass ich gegen meinen eigenen Wert verstoße, weil ich vielleicht auf den gut gemeinten Tipp eines anderen Menschen höre, der ganz andere Werte positiv findet als ich. Dann ignoriere ich mein Freiheitsbedürfnis und lebe das Gegenteil des von mir als attraktiv empfundenen Wertes. Dass ich mich damit früher oder später unzufrieden, unauthentisch und wie im falschen Film fühle, ist so vorprogrammiert. Mein Leben passt dann nicht zu mir, es macht sich ein diffuses, nagendes Empfinden von „Das habe ich mir aber anders vorgestellt!“, ein Gefühl von Verloren-Sein und Orientierungslosigkeit breit.
Meine mir wichtigsten Werte sind Unabhängigkeit, Ruhe, Frieden, Schönheit und Tiefgang. Diese Werte finde ich in all den oben genannten Dingen und Tätigkeiten, die mich glücklich machen und die mich interessieren. In der Natur finde ich sogar alle diese fünf Werte auf einmal, genauso wie beim Lesen, beim Schreiben, beim Coachen und im Zusammensein mit Tieren. Und somit ist es gar nicht nötig, mich auf ein einziges Berufsbild bzw. eine Berufung zu fokussieren. Ich muss eigentlich nur meine Werte kennen und verinnerlicht haben, damit ich alle größeren beruflichen und persönlichen Entscheidungen an ihnen ausrichten kann. Die Frage „Dient das meinen Werten?“ darf so immer mitschwingen und macht es viel leichter, zu manchem aus vollem Herzen Ja und zu anderem aus ganzem Herzen Nein zu sagen.
Und natürlich ändern sich auch die als wichtig empfundenen Werte in den verschiedenen Lebensphasen. Nach einer schweren Krankheit bekommt Gesundheit einen ganz anderen Stellenwert, nach einem Schicksalsschlag oder einem Vertrauensbruch werden vielleicht Werte wie Sicherheit und Zuverlässigkeit wichtiger. Fehlen uns hingegen seit Jahren neue Impulse, können Werte wie Neugierde, Weiterentwicklung und Abwechslung im Vordergrund stehen. Deshalb ist es sinnvoll, immer mal wieder neu in sich zu gehen und zu bestimmen, welche Werte gerade gelebt werden wollen.
Der Haken an der einzig wahren und großen Berufung ist meiner Meinung nach: Sie kann einen zu sehr festlegen und limitiert einen deshalb. Oder aber ich setze mich vor lauter Bemühen, meine Berufung zu finden, so unter Druck, dass ich den Wald vor lauter Bäumen nicht sehe. Kennen wir hingegen die uns wichtigsten Werte, öffnen sich immer wieder neue Räume. Räume, die dann zu uns passen, die nicht zu groß und nicht zu klein sind. Räume, in denen wir wir selbst sind. Räume, in denen wir wachsen können. Räume, in denen wir zuhause sind.
Kennst du deine Werte und richtest dich sich danach aus? Welcher Wert soll in deinem Leben mehr Raum einnehmen? Welche Räume dürfen sich für dich öffnen?
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