Keine guten Zeiten für Perfektionismus

 

Als ich noch als Personalerin gearbeitet habe und regelmäßig Vorstellungsgespräche geführt habe, stellte ich natürlich auch die von vielen Menschen gefürchtete Frage nach den Stärken und Schwächen. Ich habe mich immer bemüht, die Frage nicht so plump zu formulieren, damit ich eben auch eine halbwegs individuelle und ehrliche Antwort bekam. Also nicht „Nennen Sie mir bitte drei Stärken und eine Schwäche“, sondern eher „Gibt es etwas, was Sie an anderen bewundernswert finden und wovon Sie sich gerne eine Scheibe abschneiden würden?“ oder „Welches Lob haben Sie in Ihrem Berufsleben am häufigsten gehört?“ „Wie würden Ihre Freunde oder Menschen, mit denen Sie zusammenarbeiten, Sie beschreiben?“ Und trotz aller individuellen Fragestellungen waren die Antworten doch häufig sehr ähnlich. Als häufigste Schwäche habe ich definitiv die Antwort „Perfektionismus“ gehört. Dicht gefolgt von „Ungeduld“. Gerne auch in Kombination: „Ich habe so einen hohen Anspruch an mich selbst (und andere) und der macht mich ungeduldig.“

 

 

Ich glaube nicht, dass diese Menschen alle denselben Bewerbungsratgeber gelesen haben. Perfektionismus galt eine Weile – zumindest in meiner und älteren Generationen – zwar als durchaus für den Arbeitgeber attraktive Schwäche. Das war vor New Work, Generation Z, Downshifting, Burnout-Prävention und einer größeren Gewichtung auf das Leben außerhalb der Arbeit.  Aber auch heute, da vielen von uns längst klar geworden ist, dass es noch mehr erfolgreiche Lebensmodelle als das klassische Karrieremachen gibt, ist Perfektionismus weit verbreitet. Vielleicht ist er heute subtiler. Perfekt und erstrebenswert ist nicht mehr unbedingt der- oder diejenige mit dem beeindruckenden Titel, dem dicken Gehalt, den weitesten Fernreisen und dem tollen Haus. Welche äußeren Merkmale als erstrebenswert gelten, hängt stark von dem persönlichen Umfeld ab, in dem wir uns bewegen, von dem Ort, an dem wir leben, von der Branche, in der wir arbeiten.

 

 

Im Coaching treffe ich oft auf Menschen, die unter großem Druck stehen. Dieser Druck kommt häufig von außen und meistens ebenso von innen und hat sehr individuelle Ursachen, die sich durch viel Reflektion und verschiedene Coaching-Übungen aufdecken lassen.  Und auch hier begegnet mir das Thema Perfektionismus regelmäßig. Und da sich KlientInnen im Coaching mir als Coach gegenüber – im Gegensatz zu BewerberInnen mir als Personalerin – nicht unbedingt bestmöglich präsentieren wollen, glaube ich, dass Perfektionismus wirklich eine der häufigsten menschlichen Schwächen ist. Wahrscheinlich ist Schwäche nicht ganz das richtige Wort, weil es ebenfalls schon wieder unter Druck setzenden Optimierungsbedarf suggeriert. Vielleicht ist Fallstrick das passendere Wort, denn wir stolpern in gut gemeinter Absicht. Die Felder, in denen wir perfekt sein wollen, sind so unterschiedlich wie wir Menschen: Ernährung, Beruf, Sport, Familie, Studium, Aussehen, Wohnungseinrichtung, Nachhaltigkeit.  Und Anfang Januar wollen viele von uns auf maximal vielen dieser Felder perfekt sein.

 

 

Ich beende das Jahr meistens schreibend und halte schriftlich fest, wofür ich dem alten Jahr dankbar bin und was ich mir vom neuen Jahr wünsche. Das sind nicht unbedingt klare Ziele (manchmal aber auch) oder klassisch gute Vorsätze, sondern es ist eher ein Fokus, den ich mir für die nächste Zeit setzen möchte. Ich habe es dieses Mal anders gemacht. Ich habe nur aufgeschrieben, wofür ich dankbar bin. Es war trotz großer Belastungen, Enttäuschungen und Sorgen auch (oder gerade?) 2020 sehr vieles. Ich hatte danach absolut keine Lust, mir Vorhaben für 2021 aufzuschreiben, die mich nicht beflügeln, sondern unter Druck setzen, weil die nächsten Wochen mit der zermürbenden Mischung aus Homeschooling, Homeoffice und weiteren Einschränkungen vor mir liegen. Ich habe ein paar Wünsche und Träume, manche von ihnen nehme ich von Jahr zu Jahr mit, und ich weiß, nach welchen Werten ich leben und arbeiten möchte. Aber ich hatte den ganz klaren Gedanken: Das sind keine guten Zeiten für Perfektionismus und damit einhergehenden ausgeklügelten und ambitionierten Pläne. Das Jahr liegt vor uns, beängstigend und frisch und voller Möglichkeiten zugleich. Und das Jahr hat 365 Tage. Manche davon werden gut sein und glücklich, andere traurig und anstrengend, viele irgendwas dazwischen oder alles zusammen. Perfekt muss keiner davon sein.

 

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