Vom Schubladendenken oder: Stille Wasser sind tief

Vor kurzem habe ich ein Buch gelesen, das ich am liebsten allen Menschen, die ich kenne (und auch denen, die ich nicht kenne), empfehlen möchte.

 

Das Buch heißt „Still – Die Kraft der Introvertierten“ von Susan Cain und beschreibt all die Unterschiede, die es zwischen introvertierten und extrovertierten Menschen geben kann. Es gibt unzählige Persönlichkeitstests und -modelle am Markt, die verschiedene charakterliche Facetten beleuchten. Nach dem Lesen dieses Buches bin ich inzwischen ziemlich sicher, dass kaum ein Faktor so entscheidend ist wie die Tatsache, ob wir introvertiert oder extrovertiert sind.

 

Es beeinflusst so unglaublich vieles, ob wir introvertiert oder extrovertiert sind. Hier nur ein paar Beispiele:  Extrovertierte Menschen können besser arbeiten in farbigen Räumen, weil sie Impulse von außen schätzen. Introvertierte Menschen hingegen haben in einer farbenfrohen Umgebung mit einer ständigen Reizüberflutung zu kämpfen und können sich besser in neutral gehaltenen Räumen konzentrieren. Jahrelang habe ich als introvertierter Mensch all die Kollegen und Kolleginnen beneidet, die im Großraumbüro weniger Konzentrationsschwierigkeiten hatten als ich. Ich dachte, sie könnten Gespräche und Geräusche einfach viel besser ausblenden als ich. In dem Buch von Susan Cain wird ein Experiment beschrieben, das beweist: extrovertierte Menschen können Störfaktoren wie akustische oder optische Signale nicht unbedingt besser ausblenden, sondern für sie sind es gar keine Störfaktoren. Introvertierte Menschen können bei einer geringen Dezibelzahl besser arbeiten, extrovertierte Menschen bei einer höheren. Für extrovertierte Personen sind diese Reize also wertvolle Impulse und es kostet sie überhaupt keine Energie, mit ihnen klarzukommen, im Gegenteil. Ein ruhiges Einzelbüro hingegen würde Extrovertierte viel eher unproduktiv machen und ihnen Energie rauben.

 

Introvertierte Menschen sind dafür interessanterweise auf weniger Schlaf angewiesen als extrovertierte Menschen. Denn wer nicht ausgeschlafen ist, kann sich nicht so gut auf Details konzentrieren. Für einen Introvertierten, der tendenziell eher unter Reizüberflutung leidet, kann es ganz angenehm sein, einmal weniger Reize als sonst wahrzunehmen. Extrovertierte sind viel belohnungssensibler als Introvertierte: das macht sie in der Regel ehrgeiziger, während Introvertierte oft ausdauernder sind.

 

Was der Autorin wichtig ist: es gibt kein Richtig und kein Falsch. Die Welt braucht introvertierte Menschen und sie braucht extrovertierte Menschen, jeweils mit ihren eigenen Qualitäten. Was Susan Cain allerdings auch sagt, ist, dass unsere westliche Gesellschaft seit einigen Jahrzehnten sehr viel mehr auf extrovertierte Menschen ausgerichtet ist. Instrumente wie Brainstorming, Arbeitssituationen wie Meetings und Großraumbüros und schon in Schulen Gruppenarbeit und das Halten von Präsentationen sind sehr auf extrovertierte Menschen zugeschnitten. Schlagfertigkeit, Flexibilität und Offenheit sind gut und attraktiv. Die Fähigkeit, sich in der Tiefe und alleine mit etwas auseinanderzusetzen, sich still zu beschäftigen und ein gewisser Forschungsdrang eher ein bisschen nerdig, kauzig und behäbig. Mir fiel das extrem auf, als ich mir am Freitag das Zeugnis meines Sohnes ansah. Da gibt es Bewertungskriterien wie „kann gut in der Gruppe seine Meinung vertreten“, „tauscht sich über seine Empfindungen aus“ und „präsentiert sicher vor der Gruppe“. Alles Dinge, die extrovertierten Kinder wahrscheinlich sehr leichtfallen. Ich ertappte mich dabei, dass ich froh war, in meiner Grundschulzeit einfach nur für Mathe, Deutsch und Englisch benotet worden zu sein. Das war messbar und klar und eine schlechte Bewertung griff nicht meine Persönlichkeit, meine Charaktereigenschaften und meine Werte an. Der Frontalunterricht, der heute so gut wie nicht mehr existiert und als altmodisch und nicht lernförderlich empfunden wird, war für ein introvertiertes Kind wie mich genau das Richtige. Introvertierte Menschen haben auch als Erwachsene oft eher ein Faible für Vorträge als für Workshops, bei denen sie mit fremden Menschen vor der Gruppe etwas spontan Erarbeitetes präsentieren müssen.

 

Ich wünschte, es würden mehr Menschen dieses Buch kennen. Damit es ein größeres Verständnis und mehr Toleranz für Individualität gäbe. Damit auf Grundschulzeugnissen neben all den extrovertierten Qualitäten auch solche bewertet würden, die eher introvertierte Kinder mitbringen wie: „Hört konzentriert zu“, „Kann sich in Lerninhalte vertiefen“, „Ist ein guter Beobachter“, „zeigt Ausdauer, sich in kniffelige Sachverhalte einzuarbeiten“ und „arbeitet gewissenhaft und analytisch“.

 

Und wenn ich mir dann noch etwas wünschen dürfte, dann wäre es das Abschaffen von Schubladen, in die wir andere stecken und selbst gesteckt werden. Und da ich weiß, dass das utopisch ist, weil so ein bisschen Schubladendenken ja auch notwendige Orientierung in einer manchmal so unübersichtlichen Welt ist und weil es schön ist, jemanden einen „Gebrauchsanleitung“ zu sich selbst mitzugeben: wenn wir schon in Schubladen denken, könnten wir dann nicht zumindest den Menschen als Kommode mit mehreren verschiedenen Schubladen denken? Denn auch ein introvertierter Denker kann zur Tat schreiten und auch ein extrovertierter Macher kann sich in etwas vertiefen. Auch ein scheinbar sehr stiller und unauffälliger Mensch kann einen sehr starken Willen und ein reges Innenleben haben, so wie ein durchsetzungsfähiger und offener Mensch tiefe Unsicherheit und Zweifel verspüren kann. Diese – scheinbaren –  Widersprüche und Spannungen einen uns dann wohl alle – egal, ob wir uns in die Introvertiert-Schublade oder in die Extrovertiert-Schublade einsortieren.

 

Ich wünsche jedem Menschen, sich die Lebens- und Arbeitsumgebung nach seinen ganz eigenen Werten und Träumen erschaffen zu können, die zu ihm passt und die ihm entspricht. In einem beruflichen und persönlichen Umfeld, das uns sein lässt, wer wir sind und uns genau dafür schätzt und uns nicht verbiegt. Damit kein Potential verloren geht, damit Wachsen und Weiterentwicklung nicht nur leere Persönlichkeitsoptimierung um jeden Preis ist, sondern wirkliches Entfalten bedeutet. Und wer möchte, kann sich dabei gerne von mir in einem Coaching begleiten lassen oder auch erstmal in einem kostenlosen Kennenlerngespräch überlegen, ob Coaching hier das Richtige ist – so schubladenfrei wie nur irgendwie möglich, versprochen.

 

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